Auch wenn die COVID-19-Pandemie schon etwas zurückliegt und viel darüber geschrieben und debattiert wurde, wurde wenig über Familien mit einem Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) oder einer neurologischen Entwicklungsstörung geforscht.

Diese Familien sind oft auf bedeutende institutionelle Unterstützung angewiesen, um das Kind in seiner sozialen, kognitiven, motorischen oder emotionalen Entwicklung optimal zu fördern. Zu Beginn der COVID-19-Pandemie – als genau diese institutionelle Unterstützung nicht mehr gewährleistet werden konnte – wurde ein grosses internationales Projekt lanciert, welches dokumentiert, wie es eben diesen Familien erging. Weltweit wurden gemeinsam mit über 50 Kollaborationspartnerinnen und -partnern in über 70 Ländern Eltern und Betreuende während der ersten Monate der Pandemie befragt.

Aus diesem Projekt sind mehrere Publikationen hervorgegangen. Einige analysieren die gesammelten Daten einzelner Länder mit einem transdiagnostischen Ansatz; andere vergleichen Ängste und Sorgen, die von Bevölkerungsgruppen mit denselben Syndromen empfunden wurden, und wieder andere bewerten die Art und Weise, wie Kinder mit ihrer Angst umgingen (Emotionsregulation). 

Im Sommer 2023 wurde die globale Studie über alle Länder hinweg veröffentlicht, was nun die Gelegenheit bietet, die Ergebnisse zusammenzufassen und ein Fazit zu ziehen.

Prof. Dr Andrea Samson

Andrea Samson ist ausserordentliche Professorin an der Fakultät für Psychologie der FernUni Schweiz. Sie hat an verschiedenen Universitäten in der Schweiz und im Ausland studiert und geforscht.

Das Forschungsprojekt
Eine mehrstufige internationale Studie

Die Forschungsprojektleitung: Prof. Dr. Andrea Samson (FernUni Schweiz) und Prof. Dr. Jo Van Herwegen (UCL London)

Die globale Analyse mit mehr als 6’000 Familien aus über 70 Ländern, aber auch Publikationen über die Situation in spezifischen Ländern (China, Saudi-Arabien, Schweiz, Spanien, UK und den USA) konnten zeigen, dass die Eltern und Betreuenden während der ersten Monate der COVID-19-Pandemie einer sehr hohen Belastung ausgesetzt waren, welche sich in stark erhöhten Ängsten und Sorgen ausdrückte.

Diese waren zu Beginn der Pandemie am stärksten ausgeprägt und gingen auch noch Monate nach dem Beginn nicht auf das
Niveau vor der Pandemie zurück. Bemerkenswert ist, dass diese Ängste sich weniger durch länderspezifische Unterschiede
erklären lassen, wie zum Beispiel die Dauer der Restriktionsmassnahmen oder die Unterschiede in Gesundheitssystemen,
sondern dass familien- und personenspezifische Faktoren eine grössere Rolle zu spielen schienen.

Das bedeutet für die Eltern und Betreuenden, dass sie weniger Ängste empfanden, wenn sie mehr Ressourcen zur Verfügung oder nicht selber eine eigene Angststörung hatten. Es war auch sehr aufschlussreich, dass die Art des Syndroms oder der Diagnose des Kindes für die Angst der Eltern keine Rolle zu spielen schien – im Schnitt waren alle Eltern und Betreuenden von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) und neurologischen Entwicklungsstörungen erhöhtem Stress ausgesetzt, was sich in den starken Ängsten und auch in spezifischen Sorgen, um die soziale Entwicklung ihres Kindes, äusserte.

Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene mit SPF und neurologischen
Entwicklungsstörungen zeigten zwar auch erhöhte Angst zu Beginn der Pandemie, aber der Anstieg war nicht so stark wie bei deren Eltern.

Prof. Dr. Andrea Samson

Die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit SPF sorgten sich vor allem über die plötzliche Veränderung in ihrem Alltag, die Unterbrechung der Routine, aber auch über Langeweile und darüber, dass sie ihre Freunde oder Bekannten nicht treffen konnten. Hier schienen die Eltern jedoch einen grossen Teil dieser Ängste abgefedert zu haben, denn sie berichteten, dass sie die Kinder durch emotionale Co-Regulation unterstützten, z. B. in dem die Eltern sie von den negativen News abschirmten und versuchten, schnell eine neue Routine in den Alltag zu bringen. Diese Co-Regulation durch Eltern und andere Betreuungspersonen schien in dieser Zeit des erhöhten Stresses sehr wichtig gewesen zu sein.
 

Brisante Ergebnisse

Interessanterweise wirkte sich die Art der Diagnose oder des Syndroms bei den Kindern nicht nur auf deren eigenen Ängste und Sorgen aus, sondern auch auf die Art, wie sie selbst versuchten, ihre Ängste zu regulieren. Da noch wenig bekannt ist über die Emotionsregulationsprofile bei Personen mit unterschiedlichem SPF oder Entwicklungsstörungen, sind diese Ergebnisse brisant.

Sie können nicht nur weitere Studien anregen, welche dies mit robusteren Methoden untersuchen könnten, sondern auch einen
wichtigen Beitrag für Präventionsmassnahmen und Interventionen bei zukünftigen Krisen leisten. Emotionale Kompetenzen, z. B. wie man seine eigenen Emotionen und diejenigen der anderen optimal reguliert, sind von hoher Wichtigkeit, da sie einen wappnen können, mit Krisen unterschiedlichster Art umzugehen. Gerade Coachings oder Trainings für Eltern, die multiplen Belastungen ausgesetzt sind, könnten hier einen guten Ansatzpunkt darstellen.

An dieser Stelle sei nochmals allen Familien und auch allen Kollaborationspartnerinnen und -partnern gedankt, wie unter anderem auch Prof. Dr. Pamela Banta Lavenex, Anouk Papon, Alexandra Zaharia, und Giona Di Poi, welche derzeit an der FernUni Schweiz arbeiten.

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