Dr. Anna Maria Koukal wurde mit dem Genderpreis 2020 für ihre Arbeit zum Thema «Unter welchen Bedingungen sind Bürger/-innen bereit, ihren politischen Einfluss mit neuen Gruppen zu teilen – und welche Auswirkungen hat das?» ausgezeichnet. Sie wurde zum Thema Schweizer Politik und Mitbestimmung interviewt. Hier gelangen Sie zum Interview.
Wir haben eine Stimme – Wir haben eine Wahl
Bis die Männer den Frauen dieses Stimmrecht eingeräumt haben, brauchte es zwei Volksabstimmungen. 1959, bei der ersten Abstimmung scheiterte das Vorhaben kläglich – zwei Drittel der Männer waren dagegen. Erst beim zweiten Anlauf 1971 kam die Vorlage durch. Was hat sich in diesen zwölf Jahren in den Köpfen der Männer verändert? Wie haben die Frauen das geschafft?
«Neben den beiden Volksabstimmungen gab es auch noch fast 100 Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimmrechts auf der kantonalen Ebene. Nicht nur deshalb drängt sich bei manchen der Verdacht auf, dass die starke direkte Demokratie und der Föderalismus eine kleingeistige Männerbündelei begünstigt hat. Doch auch ein unvoreingenommener Blick erkennt die Rolle der direkten Demokratie. Die Frauenstimmrechtsschnecke Schweiz hat weltweit die am stärksten ausgebaute direkte Demokratie. Ins Bild passt auch, dass Bundesrat und Parlament ganz anders entschieden haben als die männlichen Bürger. Erstere befürworteten die Einführung des Frauenstimmrechts schon anlässlich der ersten Vorlage von 1959, während die Schweizer Männer mit 66,9 % klar ablehnten. 1971 waren Ständerat und Nationalrat gar einstimmig für die Einführung des Frauenstimmrechts. Diesmal folgten ihnen die Stimmbürger mit 65,7 % Zustimmung.
Sind also Parlamentarier frauenfreundlicher als Normalmänner?
Letztere mussten mit der Einführung des Frauenstimmrechts sofort einen wichtigen Teil ihres politischen Einflusses abgeben. Bundesrat und Parlament gaben hingegen nichts Eigenes ab. Kein an den Entscheidungen von 1959 und 1971 beteiligter Bundesrat, kein Ständerat und allenfalls einzelne Nationalräte wurden später von Frauen verdrängt. Auch Angst vor Abstrafung durch ihre männlichen Wähler zählte 1971 kaum. Es war wahltaktisch klüger, die neue feminine Hälfte der Wähler zu umarmen, als eine Minderheit der maskulinen Wähler zu verteidigen. Das erklärt die Abstimmungsergebnisse im National- und Ständerat: Einstimmigkeit – allerdings bei Abwesenheit von rund einem Viertel. Die vermeintliche Frauenfreundlichkeit der Parlamentarier beruhte auch auf einer Schweigespirale, oder netter gesagt: voraus-eilendem Gehorsam gegenüber den zukünftigen Wählerinnen.»
Somit bremste die direkte Demokratie die Einführung des Frauenstimmrechts?
«Ja, schlicht weil diejenigen gefragt wurden, die etwas zu verlieren hatten. Die aus unserer Sicht noch interessantere Frage ist, ob die direkte Demokratie auch das Stimmverhalten der Männer beeinflusst hat. Dafür spricht auf den ersten Blick einiges: In den französischsprachigen Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf mit eher schwach ausgebauten direktdemokratischen Rechten stimmten die Männer schon 1959 und 1960 für das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene. Im Gegensatz dazu mussten die Männer in Appenzell Innerrhoden – einem Landsgemeindekanton – 1990 sogar vom Bundesgericht zur Annahme gezwungen werden.
Die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz bedeutet aber nicht generell, dass die direkte Demokratie bestimmte Gruppen benachteiligt. Vielmehr zeigen unsere Resultate, dass eine starke direkte Demokratie den Preis erhöht, das Stimmrecht auszudehnen, weil der eigene Einfluss gerade in der direkten Demokratie sehr hoch ist. Andererseits stärkt direkte Demokratie die Bereitschaft der Bürger, für die demokratischen Rechte anderer einzustehen, solange die Stärkung deren Rechte nicht zur Schmälerung des Werts der eigenen Rechte führt. Diese Beobachtungen sind jedoch nicht ausreichend, um die Rolle der direkten Demokratie für die späte Einführung des Frauenstimmrechts wirklich zu verstehen. Schliesslich spielten auch diverse andere Einflussfaktoren eine Rolle, etwa Kultur, Religion, Urbanisierung oder Arbeitsmarktintegration von Frauen.»
Was analysieren Sie im Detail seitens der Forschung? Erstaunlicherweise wurden die Ergebnisse der knapp 100 Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimmrechts, die zwischen 1919 und 1990 stattfanden, bisher weder systematisch erfasst noch analysiert.
«Mit unserer Forschung schliessen wir diese Lücke, indem wir diese Abstimmungsergebnisse auf Gemeindeebene digitalisieren und ökonometrisch analysieren. So können wir beobachten, wie sich die Zustimmung der Männer im Zeitverlauf verändert und wie sich die Stärke der direkten Demokratie auf die Zustimmung zum Frauenstimmrecht auswirkt. Die verlässlichsten Analysen beruhen auf Gemeindedaten. Damit ist die Stichprobe genügend gross, um für viele Einflussfaktoren zu kontrollieren, und sie ermöglicht Difference-in-Difference-Regressionen mit fixen Effekten für die Zeit, Kantone oder Gemeinden. So kontrollieren wir für den Einfluss von Faktoren, die sich nicht direkt beobachten lassen, aber eine Rolle für die Zustimmung zu Frauenstimmrecht spielen, etwa die politische Tradition eines Kantons.
Bei einer aktuellen Forschungsarbeit analysierten wir zudem das politische Engagement von Frauen und Männern nach der Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts 1959. Interessant ist, dass die Wahlbeteiligung der Frauen zunächst nur bei rund 15 % lag. Erst über die Zeit nimmt sie langsam zu, wobei die Zunahme in Gemeinden mit ausgeprägter direkter Demokratie etwas stärker ist. Auf der anderen Seite beobachten wir, dass durch die Einführung des Frauenstimmrechts die Politik für Männer weniger attraktiv zu werden scheint.»
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PERSONAL TALK
Wo besteht immer noch Nachholbedarf in Sachen Gleichberechtigung?
Die Gleichberechtigungsdebatte wurde in den letzten Jahren immer breiter gefasst und wurde vielfältiger. Dadurch ist die Debatte etwas weniger durch die klassischen Geschlechtergegensätze geprägt. In der Schweiz und anderen westlichen Demokratien besteht in den allermeisten Bereichen formale Gleichberechtigung. Trotzdem bleibt es schwierig deren tatsächliche Umsetzung zu quantifizieren. Eine grosse Herausforderung ist es dabei weiterhin Präferenzen (z. B. für bestimmte Schulfächer, für bestimmte Arbeitsmarktsektoren, Produkte etc.) von diskriminierenden Faktoren wie Vorurteilen zu trennen. Selbst bei sehr gut erforschten Bereichen wie dem Gender Wage Gap, ist es immer noch schwierig den Anteil festzulegen, der durch pure Diskriminierung und nicht durch Präferenzen oder Qualifikation erklärt werden kann. In diesem Bereich kann die Forschung sich mit Hilfe von kreativen Ansätzen noch weiterentwickeln. In der Praxis ist die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit in klassischen Männerberufen und Führungspositionen noch sehr ausbaufähig.
In welchem Bereich hat die Gleichstellung seit 1971 die grössten Fortschritte gemacht?
Neben 1971 war auch 1981 ein entscheidendes Jahr für die Gleichstellung von Männern und Frauen in der Schweiz, denn seit 1981 ist in der Bundesverfassung festgeschrieben, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Neben diesem Meilenstein sind Frauen inzwischen in allen wichtigen Bereichen der Wirtschaft und der Politik vertreten. Eine zentrale Rolle für diese Entwicklungen hat die verbesserte politische Repräsentation gespielt. Wie bei fast allen gesellschaftlichen Umwälzungen nimmt die Geschwindigkeit von Anpassungen mit der Zeit allerdings ab und es zeigt sich, dass Gleichstellung ein Marathon und kein Sprint ist.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Wenn Sie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen weiterdenken, wo stehen wir in Sachen Gleichstellung in 20 Jahren?
Traditionell sind die Vorreiter in Sachen Gleichstellung die nordischen Länder, es ist spannend zu sehen, ob sich deren Modell in den nächsten 20 Jahren auch in anderen westlichen Demokratien durchsetzen wird. Die Schweiz hat über ihre stark ausgebaute direkte Demokratie ein robustes Instrument zur Ideenfindung und Umsetzung von gesellschaftlichen Zielen wie Gleichstellung. Ich könnte mir deshalb gut vorstellen, dass die Gleichstellungsdebatte in 20 Jahren vielfältiger abläuft und auch andere Ungleichheiten wie soziale und geografische Herkunft und Geschlechteridentitäten allgemein umfasst. Zudem ist es denkbar, dass sich Jobsharing in vielen Bereichen vermehrt durchsetzen wird.